Die Blume und die Galeere
Eine Reise braucht keine Beweggründe.
Es zeigt sich sehr rasch, dass sie sich selber genug ist. Man glaubt wohl, dass man eine Reise machen wird, doch bald stellt sich heraus, dass es die Reise ist, die einen macht – oder kaputtmacht.
Nicolas Bouvier, L’usage du monde.
« Un voyage se passe de motifs.
Il ne tarde pas à prouver qu’il se suffit lui-même. On croit, qu’on va faire un voyage mais bientôt c’est le voyage qui vous fait, ou vous défait. »
Eines Abends als ich mich, ohne ein Ziel vor Augen zu haben, so durchs Netz guggelte, landete ich vor dem Schaufenster einer Caroline, die dabei ist um die Welt zu tippeln.(klicke auf „Pieds Libres“)
Ganz groß oben über ihr Schaufenster hat sie dieses Zitat von Maurice Bouvier gesetzt.
Zeit genug habe ich ja, um das Buch wieder vorzukramen damit ich genauer nachzulesen kann. Denn wir sitzen wiedermal fest. Diesmal hat sich eines der Pferde einen Muskelriss zugezogen und bewegt sich nur unter Schmerzen, was uns wieder eine Zwangspause beschert.
Jetzt sind wir schon vier Monate unterwegs, wovon allerdings drei davon aus Abwarten und Ausheilen bestanden.
Auf jeder unserer Zwangsetappen sind wir sehr großzügig und lieb aufgenommen worden, so wie auch hier, in den Bergen des hohen Beaujolais.
Und hier war es, wo wir Daniel und seine Familie getroffen haben.
Daniel ist Bauer.
Er wohnt mit Frau und Tochter auf dem Hof seiner Vorfahren. Und mit seiner Mutter. Mit ihren 84 Jahren ist sie noch sehr anwesend : Und wie ! ! !
Großmutter kennt nichts anderes, als ein Leben voller Mühe und Arbeit. So hat sie es von ihren Eltern gelernt. Von Sonnenaufgang bis hinein in die Dunkelheit ist sie am Herumwirbeln. Sie fegt den Stall mit dem abgewetzten Reisigbesen, Sie karrt Mist, wenn auch nur mit halben Karren, sie zupft Unkraut aus allen Mauerritzen, sie ist bei der Weinernte eine der eifrigsten.
In dieser, so scheint es schon seit Generationen ausgefahrenen Spur folgt ihr Daniel, so, als hätte er nie eine andere Wahl gehabt.
Und wahrscheinlich ist das auch so. So wie man es auch nicht selber gewählt hat, geboren zu sein. In dieser Zeit, in diese Welt.
Bei Daniel ist das so :
Da ist Gott, der lenkt alles. Das steht in der Bibel. Da waren die Könige und ihre Feldherren, die haben die Geschichte geschrieben, und, die Zeiten ändern sich.
Offensichtlich beackert Daniel ein verstecktes Feld, tief verborgen in seinem Inneren. Auf jeden Fall ist er, was Geschichte anbetrifft, sehr belesen. Das bemerkt man sofort, wenn man ihm zuhört. Wie sein Hof, so ist auch hier alles fein geordnet, funktionell, lieb mit Blumentöpfen bestückt, um alles Unangenehme erträglicher zu machen. Ganz zu schweigen von den tragischen Ereignissen, den Gottesstrafen. Das Auge soll sich ja auch freuen können, und vor allem die Seele.
Kein klagendes Wort, nur eine leise angedeutete Kritik : „In den Schulen sollte mehr auf die Geschichte des einfachen Volkes eingegangen werden. . .“
Aber keine Beschwerden, denn es ist so, wie es ist, und da ist nicht dran zu rütteln.
Im Grunde ist alles sehr einfach. Ein Blick in die Bücher genügt für fast alle Fälle. Ansonsten hilft die Bibel.
Wir waren oft auf seinem Hof eingeladen. Halfen bei der Weinernte, aßen gemeinsam, lernten uns langsam näher begreifen und erahnen.
Wie sorgfältig alles in dieser kleinen Welt aufgeräumt war ! Die Reihen der Geranientöpfe, das Werkzeug, aufgestellt wie in einem alten Bilderbuch, die Kühe, warmes Wiederkäuen am Abend beim Melken. Und die frische Milch !
Und alles zusammen, dieses ganze kleine Menschenvolk das hier zusammen wohnt. In all seiner schlichten Einfachheit und stillen Schönheit.
Wie ist es möglich, dass diese ruhige Beschaulichkeit, dieses stille Ebenmaß mit dieser elenden, tagtäglichen Plackerei einhergeht ? Generationenlang hat das arbeitende Volk für bessere Bedingungen, für kürzere Arbeitszeiten gefochten, und hier gibt es noch so etwas, als hätte sich nichts geändert !
Oder ist es etwa so :
Kettet man einen noch so begeisterten Ruderer in eine Galeere, so versucht er sich frei zu kämpfen. Macht man ihn aber zu ihrem Kapitän, so müht er sich, und dieses ganz freiwillig, damit ab, wie man die Mannschaft besser einsetzen könnte. Als ihr Eigener hingegen, hätte er keine freie Minute mehr : Er tüftelte daran herum, wie die Erträge zu steigern wären. Wo aber sieht man den Kapitän oder dem Eigner sogar, wo sieht man sie selber rudern ? Und wenn, dann ist es zum Beispiel auf einem Lehrgang unter dem Titel : „Rudern zur Selbstfindung“ und mit entsprechenden Teilnahmegebühren.
Würde ich dort diese ausgeglichene Gelassenheit finden ?
Daniel rudert selber, obwohl er Kapitän und dazu noch Eigener ist.
Wie es auch sei, auf jeden Fall haben wir da eine der seltenen Menschen getroffen, die das Glück gefunden haben, ihre Leidenschaft leben zu können. Wie schwierig es auch sei die Rosinen die man im Kopf hat, in den Bauch zu kriegen, Daniel hat auch das hingekriegt.
In dem Text von Bouvier kann man gut das Wort « Reise » durch das Wort « Leidenschaft » ersetzen. Oder Liebe. Nichts würde sich an seinem Sinn ändern.
Bei Daniel allerdings sieht es so aus, als könnte man den letzten Teil des Zitats, das Ding mit dem Kaputtmachen, schlicht fallenlassen.
Die Früchte des Wartens
Langsam, langsam heilt Noés Muskelriss aus.
Somit bleibt uns nichts anderes übrig, als uns mit ausgedehnten Spaziergängen zu trösten. Hier ein Bild der Umgebung, durch die wir uns so hindurch kringeln :
Die Häuser rundherum werden von Quellen versorgt, deren Überschuss eine Viehtränke versorgt, die neben dem Gebäude ist oder mitten auf dem Hof. Die Gebäudegruppe, wo wir Halt gefunden haben, nennt man „Le Grand Chemin“, den Großen Weg.
Wir sind hier im „Hohen Beaujolais“, wo die Weinernte im vollen Rausch schwelgt. Wir waren zu diesem alljährlichen Ritual dazu-geladen : Pingelig genaues Heraus-pflücken der besten Trauben mit einer winzig-kleinen gebogenen Klinge, „Serpette“ genannt. Ein Qualitätswein verlangt dieses.
Oswald konnte kräftig vom leicht an-gegorenen Traubensaft probieren, der in dieser Gegend „Paradies“ genannt wird. Zuckersüß und nur mit geringem Alkoholgehalt. Ich hingegen hielt mich an den reinen, pasteurisierten Traubensaft aus der Flasche, extra für mich geöffnet.
Es war auf Daniels Weinberg, wo wir an der Lese teilnehmen durften. Die ganze Familie und die nähere Verwandtschaft waren anwesend : Ariane, seine Frau, Tochter Élise, Brüder und Schwestern,Schwager und Schwägerin.
Und vor allem, Großmutter, beiihren 84 Jahren nicht kaputt zu kriegen.
Es ist nicht zu glauben : Unermüdlich schafft sie im Stall, im Garten, auf dem Hof. Und dieses trotz einer nagenden Arthrose die ihren Rücken verkrümmt, die Finger verkrallt. Welche Schönheit aus ihr strahlt, welche Wärme und Güte, wenn sie den alten Hund streichelt und mit leiser Stimme Lob zuspricht. Ihr Leben war nicht immer einfach gewesen, sie hat zwei ihrer Kinder sterben sehen, den Krieg erlebt, die schwere Zeit danach.
Der Hof ist mit viel Liebe und Sorgfalt bearbeitet. Überall Blumen, die Milchkühe, gestriegelt und gut im Futter. Die Hörner sind ihnen gelassen worden. Daniel ist im Widerstand gegen viele der gängigen Modeerscheinungen. Er enthornt nicht.
Er meint, es sei besser so für die Tiere, außerdem sind sie so besser zu manipulieren.
Jeden Tag werden sie im Stall gemolken, morgens und abends. Den Rest des Tages sind sie auf der Weide. Dann kann der Stall wieder in Ordnung gebrachr werden. Großmutter sorgt dafür. Gemütlich überwintert der Kürbis in der wohligen Stallwärme.
Ansonsten verbringen wir den Tag mit langen Wanderungen um dem Lärm zu entkommen. Die Roulotte steht nämlich genau an der stark befahrenen Straße.
So streifen wir durch diese bergige Gegend, entlang den zwischen Hecken versteckten Feldwegen, wo die Natur noch ein winziges Plätzchen für sich gefunden hat.
Aber wenn der Blich weit über das Land schweifen kann sehen wir, das alles, aber auch wirklich alles von Menschenhand umgestaltet ist. Selbst keine Wälder mehr, nur noch Baumfelder.
Wir durchqueren uralte Weiler, aufwendig restaurierte Häuser neben Dornen-überwucherten Ruinen.
Im Dorf „Les Ardillats“ entdeckten wir das Kriegerdenkmal, welches nicht wie sonst, den Krieg verherrlicht. Hier wendet sich der Soldat vom Gewehr ab und greift zum Pflug.
Die Berghöhen, zwischen 700 und 1000 Metern, verstecken sich in wabernden Wolken.
Aber bei klarem Wetter überblicken wir die Ebene der Saône. Wir hoffen, sie eines guten Tages zu durchqueren.
. . . und vergessen wir nicht die kleinen Dinge :
Auch haben wir so einige Besonderheiten und Bräuche entdeckt. Jung Verheirateten setzt man zum Beispiel einen solchen Hochzeitsbaum.
Im Städtchen Beaujeu, nach dem diese Gegend, das Beaujolais benannt worden ist, aén wir in einem Wirtshaus, welches „Retinton“ heißt. Das ist die lokale Bezeichnung für das Reste-Essen nach der üppigen Sause.
Als wir bei Pierre und Stéphanie in ihrem mit viel Geschmack wieder hergestellten Hof eingeladen waren, servierte man uns als Aperitiv einen „Riquiqui“. Dieses Wässerchen findet man nur hier im hohen Beaujolais. Es ist ein Mix aus Federweißem und Hartgebrannten. Oswald wat beim ersten Glas etwas verwundert, aber dann gewöhnte er sich schnell und stülpte noch ein zweites Gläschen. Ich schnupperte selbst nicht daran, trotz heftigen Drängens.
Am 8. Oktober fuhr uns Ariane in der näheren Umgebung Spazieren. Sie zeigte uns eine Höhe, von der aus man das Tal der Saône überschauen kann. Bei klarem Wetter sieht man sogar die Alpen, die sich, beim Aufwenden von viel Einbildungskraft, blass am Horizont abzeichneten.
Im Dörfchen Avenas fanden wir diese kleine Kirche.
Und eine Bücher-Tausch-Kiste !
Wir fanden hier das Buch von Matthieu Ricard, den offiziellen Übersetzer des Dalai Lama ins Französische. Es heißt : „Plädoyer für den Altruismus“. Wir schenkten es der Ariane, wir kennen es schon und wir meinen, es würde ihr auch gefallen.
Noé geht es inzwischen wieder so gut, dass wir aufbrechen können. Und diesmal sind wir sicher, denn selbst wenn die Pferde wieder verrückt spielen, ist eine Ersatzmannschaft in Reserve bereit.
Anne, am 11. Oktober 2014, frei übertragen vom oswald